AHA-Regeln und Testen als Pandemiebremse – Ministerpräsidentin Malu Dreyer stellt mit Forscherteam neue Ergebnisse der großen Gutenberg COVID-19 Studie vor
Nach neun Monaten intensiver Forschung haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Gutenberg COVID-19 Studie (GCS) der Universitätsmedizin Mainz, eine der größten und umfassendsten Studien ihrer Art in Deutschland, wichtige neue Erkenntnisse gewonnen. Diese sind ein entscheidender Baustein, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie und Wege zu ihrer Bewältigung besser abschätzen zu können. Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Wissenschaftsminister Clemens Hoch betonten bei der Vorstellung in der Staatskanzlei die Relevanz der Studie, die Aufschluss unter anderem zur Dunkelziffer des Infektionsgeschehens, der Bedeutung der Schutzmaßnahmen und der Testungen sowie zu den sozialen und seelischen Auswirkungen der Pandemie gebe. An der Präsentation in der Staatskanzlei nahmen neben dem Sprecher der Studienleitung, Univ.-Prof. Dr. Philipp Wild, auch der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch, und der Vorstandsvorsitzende und Medizinische Vorstand der Universitätsmedizin Mainz, Univ.-Prof. Dr. Norbert Pfeiffer, teil.
„Wissenschaft ist der Schlüssel für die Herausforderungen unserer Zeit. Die Forschungserfolge der vergangenen Jahrzehnte haben es beispielsweise dem Mainzer Unternehmen BioNTech möglich gemacht, innerhalb eines dreiviertel Jahres einen vollkommen neuen Impfstoff zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.
Die Früchte der Wissenschaft erntet man nicht unbedingt schnell. Ein langer Atem zahlt sich auch in der Forschungsförderung aus. Darauf basiert auch die Gutenberg Gesundheitsstudie, auf die die GCS aufsetzt“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Die nun zutage geförderten Ergebnisse hätten nicht nur in der Rückschau einen hohen Erkenntnisgewinn, sondern sie lieferten notwendige Fakten, um das kommende Vorgehen daran auszurichten.
So ist eine der Kernaussagen der Studie, dass mehr als 40 Prozent aller mit SARS-CoV2 Infizierten nicht von ihrer Infektion wissen. „Wir haben in Rheinland-Pfalz sehr schnell auf flächendeckende Testangebote gesetzt. Mit unserem Projekt ‚Testen für Alle‘ hatten wir mehr als 1.700 Teststellen im ganzen Land eingerichtet. Hier konnten viele Infektionen entdeckt werden, die sonst verborgen geblieben wären, und die Ausweitung der Pandemie so gebremst werden“, so die Ministerpräsidentin.
Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass gerade die recht niedrigschwelligen Vorgaben wie die AHA-Regeln in der Praxis einen hohen Nutzen haben. „Menschen, die häufiger Maske getragen oder sich häufiger an die Abstandsregeln gehalten haben, haben sich im Rahmen der Studie auffällig seltener infiziert. Das bestätigt auch, dass unser Schwerpunkt in Rheinland-Pfalz mit Maske und Co. eine richtige Entscheidung war und mit Sicherheit zur Reduktion der Infektionszahlen deutlich beigetragen hat“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer.
Eine weitere Aussage der Studie ist gerade für die Impfkampagne, die sich nun an einem Wendepunkt befindet, von großer Bedeutung, erläuterte die Ministerpräsidentin. „Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass eine besonders schutzbedürftige Gruppe, nämlich die Menschen mit niedrigerem sozioökomischen Status, eine niedrigere Impfquote aufweisen. Genau hier wollen wir gezielt ansetzen. Wir planen stärker dahin zu gehen, wo die Impfquote niedrig ist und viele Menschen zusammenkommen. Dort wollen wir unbürokratisch, unkompliziert und schnell Schutzimpfungen anbieten. So hoffen wir, passgenaue Angebote vor allem für die zu machen, für die das bisher nicht so möglich war – und damit die Impfquote im Land weiter zu erhöhen.“ Ministerpräsidentin Malu Dreyer lobte dabei ausdrücklich, dass die Studie auf einem so breiten Datenfundament steht. „Seit 2007 werden Gesundheitsdaten von 15.000 Personen aus Rheinhessen erhoben. Die Gutenberg Gesundheitsstudie ist damit eine der größten lokalen Gesundheitsstudien der Welt geworden. Mit unserer Förderung auf Landesebene sowie durch die Förderung im Rahmen des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung können wir Mittel für die Gutenberg COVID-19 Studie zur Verfügung stellen, die direkte Erkenntnisse zum pandemischen Geschehen für unser Land liefern und darüber hinaus noch eine Strahlkraft über die rheinland-pfälzischen Grenzen hinaus erzeugen können.“
Wissenschafts- und Gesundheitsminister Clemens Hoch schloss sich den Worten an. „Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen in die praktische Anwendung gebracht werden, um so den größtmöglichen Mehrwert für unser Leben zu sichern. Wir können als Land langfristig von den Ergebnissen der Gutenberg COVID-19 Studie profitieren“, sagte Hoch. „Der große Nutzen der jetzigen Ergebnisse ist ein weiterer Nachweis, welch große Bedeutung die Universitätsmedizin Mainz für unser Bundesland und die Rhein-Main-Region besitzt. Die Universitätsmedizin leistet angesichts der Pandemie Herausragendes. Und sie ist ein wesentlicher Baustein des kreativen und lebendigen Forschungsumfeldes in Mainz, das die Möglichkeiten geschaffen hat, einen Erfolg wie BioNTech möglich zu machen.“ Hoch kündigte darüber hinaus an, dass die Studie fortgeführt werden solle. „Wir nutzen dazu weiter die Fördermöglichkeit des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung. In der kommenden Phase soll die Universitätsmedizin bis zum 30. Juni 2023 mit einem Fördervolumen von knapp 1,5 Millionen Euro unterstützt werden. Es soll dann die detaillierte Auswertung der vorliegenden Daten und Biomaterialien sowie die zusätzlichen Datenerhebungen bezüglich neuer Aspekte, wie Impfungen, Mutationen und Langzeitfolgen erarbeitet werden.“
„Die Corona-Pandemie hat den Stellenwert der Universitäten für die Entwicklung unserer Gesellschaft deutlich in das Bewusstsein gerückt. Gerade Mainz als international renommierter Standort für die Lebenswissenschaften wurde seiner gesellschaftlichen Verantwortung in der Pandemie gerecht. So auch mit der Gutenberg COVID-19 Studie", erklärte der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), Prof. Dr. Georg Krausch. „Einzigartig bei dieser Studie ist die sehr große repräsentative Stichprobe der Bevölkerung in Verbindung mit der Verfügbarkeit vielfältiger epidemiologischer Daten sowie Bioproben zu jedem einzelnen Teilnehmer. So werden die generierten Erkenntnisse wichtige Informationen auch für den Umgang mit zukünftigen Pandemien liefern.“
„Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlicher haben unglaublich schnell auf die neuen Forschungsfragen reagiert und diese wichtige Studie ins Leben gerufen. Es erfüllt mich mit Dank und Stolz zu sehen, wie diese Studie zum Wohle der Gesellschaft und ihrer Gesundheit jetzt schon Früchte trägt und auch zukünftig tragen wird,“ unterstrich der Vorstandsvorsitzende und Medizinische Vorstand der Universitätsmedizin Mainz, Univ.-Prof. Dr. Norbert Pfeiffer, die besonderen Leistungen der Forscherteams. Und ergänzte: „Gerade ihre Aktualität, ihre Interdisziplinarität und die Tatsache, dass sie auf der sehr erfolgreichen Gutenberg Gesundheits-Studie aufsetzt, sind ein deutlicher Beleg dafür, dass die Universitätsmedizin Mainz patientenorientiert forscht und die gewonnenen Erkenntnisse wichtig sind.“
Der koordinierende Studienleiter Univ.-Prof. Dr. Philipp Wild verdeutlichte das Potenzial der Gutenberg COVID-19 Studie: „Wir verfolgen langfristig das Ziel, mit den Analysen zu den Auswirkungen der SARS-CoV2-Pandemie auf die Bevölkerungsgesundheit Ansätze für die Bekämpfung der Infektion zu identifizieren. Unsere Studie bietet hierzu die besondere Möglichkeit, vielschichtige und tiefgreifende Auswertungen durchzuführen. Neben den umfangreichen Informationen, die wir unter anderem mit Interviews, Fragenbögen und einer Web-App ermittelt haben, können wir auch auf Biomaterialproben, die klinisch-molekulare Untersuchungen zur SARS-CoV-2-Infektion erlauben, beispielsweise aus Blut, Stuhl oder auch dem Tränenfilm der Studienteilnehmenden, zurückgreifen. Zudem stehen umfassende, seit 2007 erhobene Vordaten der Gutenberg Gesundheits-Studie zu den Studienteilnehmenden zur Verfügung, die für eine Bewertung der Gesundheit im Verlauf besonders wichtig sind. Viele aktuelle Untersuchungsergebnisse sind auf unserem Studien-Dashboard online einsehbar, und zahlreiche wissenschaftliche Analysen werden in den kommenden Monaten folgen. Wir danken sehr herzlich für die Unterstützung und Förderung durch das Land Rheinland-Pfalz, den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE / REACT-EU), die ReALity-Initiative der Lebenswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und das Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin, die die Durchführung des Projektes erst möglich gemacht haben.“
Aus der interdisziplinären Gutenberg COVID-19 Studie der Universitätsmedizin Mainz gehen zum Abschluss ihrer ersten Projektphase zahlreiche wichtige Erkenntnisse über die kurz- und langfristigen Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Bevölkerungsgesundheit hervor.
Die multimodal erhobenen Daten der 10.250 Studienteilnehmenden im Alter von 25 bis 88 Jahren der Stadt Mainz und dem Landkreis Mainz-Bingen sind repräsentativ für die Untersuchungsregion. Erfasst wurden unter anderem Informationen zur körperlichen und seelischen Gesundheit, den ergriffenen Präventionsmaßnahmen sowie über den Alltag, die Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen und die Lebensqualität der Menschen während der Pandemie. Ihre Analyse lässt Rückschlüsse zu auf das lokale Pandemiegeschehen und liefert zudem Erkenntnisse, die grundsätzlich relevant sind für die Pandemiebekämpfung.
So lieferte die Untersuchung wichtige Hinweise zur Dunkelziffer hinsichtlich des Infektionsgeschehens. Bei etwa 3,7 Prozent der Teilnehmenden wurde bis Anfang April eine vergangene oder akute, wissentliche oder bislang nicht diagnostizierte Infektion mit SARS-CoV-2 nachgewiesen. Dies entspricht basierend auf den schon vorliegenden Daten bis Anfang Juli, aktuell einem Anteil von ungefähr 6,3 Prozent in der Bevölkerung. Der Lagebericht des Dashboards des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 02. Juli 2021 beschreibt im Vergleich einen Anteil von 4,6 Prozent wissentlicher Infektionen in Deutschland. Etwa 42 Prozent der betroffenen Menschen wussten demnach nicht von ihrer vergangenen Infektion. Männer waren häufiger unwissend infiziert, ebenso ältere Studienteilnehmende: Der Höchstwert lag bei etwa 63 Prozent bei den 75- bis 88-Jährigen. Der hohe Anteil an unerkannten Infektionen verdeutlicht, dass eine systematische Testung wichtig ist, um eine Ausbreitung des Virus und damit auch eine mögliche erneute Infektionswelle frühzeitig erkennen zu können.
Derzeit zeigt sich allerdings, dass sich die Bevölkerung immer seltener testen lässt. Insbesondere in den Gruppen der vollständig geimpften und genesenen Personen ist die Anzahl der Testungen rückläufig: Betrug die Testrate der Personen, die bereits über einen vollständigen Impfschutz verfügten, Ende April 2021 knapp 30 Prozent, so sank der Wert auf aktuell rund 15 Prozent. Da jedoch auch in diesen Personengruppen potenzielle Infektionsträger sind, müssen sie in die regelmäßige Testung weiterhin eingebunden werden, um andere Personen zu schützen und ein bestmögliches Frühwarnsystem zu gewährleisten.
Die Einhaltung der AHA-Regeln reduziert das SARS-CoV-2-Infektionsrisiko. Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass das ständige Einhalten des Mindestabstandes eine effektive Präventionsmaßnahme ist. Für die Studienteilnehmenden, die konsequent den Mindestabstand gewahrt haben, betrug das Infektionsrisiko die Hälfte von dem der Probanden, die selten oder nie die Abstandsregeln beachtet haben. Förderlich für den Schutz vor einer Infektion sind aber auch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und Home-Office: Bei jenen Personen, die regelmäßig einen Mund-Nasen-Schutz trugen, fand sich ein um 34 Prozent niedrigeres Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion im Vergleich zu Personen, die ihn nie oder nur selten trugen. Bei Berufstätigen, die ausschließlich im Home-Office arbeiteten, zeigte sich ein um rund 31 Prozent niedrigeres Infektionsrisiko im Vergleich zu Erwerbstätigen ohne Home-Office. Die Daten unterstreichen die Effektivität der Präventionsmaßnahmen und ihre Bedeutung in der Pandemiebekämpfung.
Das Forscherteam der Universitätsmedizin Mainz konnte in der Bevölkerungsstichprobe keine Anzeichen dafür finden, dass Kinder im Haushalt das Infektionsrisiko mit dem Corona-Virus erhöhen. Für dieses Risiko ist jedoch die Anzahl der in einem Haushalt lebenden Personen von Bedeutung: So liegt der Anteil einer SARS-CoV-2-Infektion bei Haushalten, in denen vier oder mehr Personen zusammenleben, verglichen mit Zwei-Personen-Haushalten um etwa 30 Prozent höher.
Menschen mit niedrigerem sozioökomischen Status sind eine besonders schutzbedürftige Gruppe. Sie haben ein höheres Infektionsrisiko – weniger aufgrund ihres Verhaltens, sondern eher aufgrund ihrer Lebensverhältnisse. Eine Ursache hierfür sind unter anderem prekäre Wohnverhältnisse: Diese Betroffenen weisen ein 1,6-fach erhöhtes Infektionsrisiko auf. Die niedrigere Impfbereitschaft und Impfquote weisen auf ein Optimierungspotenzial für die Steuerung der Impfkampagne für diese Personengruppe hin. In diesem Kontext ist es auch von Bedeutung, dass das durchschnittliche Nettoeinkommen bei rund 16 Prozent der Bevölkerung gesunken ist und dies insbesondere wiederum die einkommensschwächeren Haushalte stärker betrifft: In der armutsgefährdeten Einkommensgruppe ist das Einkommen bei mehr als jeder vierten Person gesunken. Einkommensverluste lagen in den einkommensstarken Gruppen wiederum nur bei etwa jeder sechsten Person vor – bei allerdings auch gleich häufigen Vorkommen von Einkommenssteigerungen.
Weitere Studienleiter der Gutenberg COVID-19-Studie sind Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Manfred Beutel (Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie), Univ.-Prof. Dr. Karl Lackner (Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin), Univ.-Prof. Dr. Thomas Münzel (Direktor des Zentrums für Kardiologie, Kardiologie I), Univ.-Prof. Dr. Norbert Pfeiffer (Direktor der Augenklinik und Poliklinik) und Univ.-Prof. Dr. Konstantin Strauch (Direktor des Instituts für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik). (Quelle Staatskanzlei Mainz)