Wenn Geschichte ganz nahe ist: Namen der getöteten Juden und Abschiedsbrief vorgelesen
Westerwaldkreis. „Shoa“ – das ist hebräisch und bedeutet „Unheil“ oder „Verderben“. Der Begriff fasst den nationalsozialistischen Völkermord an mehr als 6 Millionen Juden zusammen. Das Konzentrationslager Auschwitz ist ein Ort der „Shoa“. Am 27. Januar 1945 befreit die Rote Armee die Menschen, die in dem Lager zusammengepfercht sind. In Höhr-Grenzhausen ist der Tag dieser Befreiung ein Gedenktag: Seit rund 15 Jahren treffen sich Schülerinnen und Schüler mit Vertreterinnen und Vertretern der Kirchen und der Kommunen, um an das zu erinnern, was manchen weit weg scheint und anderen ganz nahe ist.
Das Shoa-Gedenken beginnt mit einem Film, den sich die Zehntklässler des Gymnasiums im Kannenbäckerland und der Ernst-Barlach-Realschule gemeinsam ansehen: eine Dokumentation über die Geschehnisse im KZ Auschwitz. Digitale Animationen und körnige Schwarzweißfotos zeigen die bis ins Detail durchkonstruierte Tötungsmaschinerie der Nazis. Was sie nicht zeigen: die Geschichten der Getöteten. „Das Leben, der gegenseitige Austausch, das Lernen in der Schule – all das wurde Millionen von Menschen geraubt“, sagt Udo Voß, Leiter der Ernst-Barlach-Realschule plus. „Was uns bleibt, sind Zahlen, die kaum das menschliche Leid ausdrücken können, das dahinter steckt.“
In Höhr-Grenzhausen bleibt es nicht bei den Bildern und Zahlen. Die Schülerinnen und Schüler gehen zu den Orten, an denen Geschichte wieder lebendig wird. Am Stadtpark lesen sie die Namen der 24 getöteten Höhr-Grenzhäuser laut vor; hören von Rosa, Max, Fritz, von den ganz normalen Leuten, die bis zu ihrer Ermordung ganz normale Leben geführt haben. Hinter ihnen: die Keramiktafeln mit den Namen der Opfer.
Dann brechen sie zum Laigueglia-Platz auf – dorthin, wo Menschen auf LKW verladen und abtransportiert wurden, während die Nachbarn vielleicht ängstlich hinter halb geschlossenen Vorhängen zugesehen haben. „Ich kann meine Gefühl gerade gar nicht beschreiben“, sagt die 15-jährige Marlene. „Dass so etwas in Höhr-Grenzhausen passiert ist, kann ich mir einfach nicht vorstellen.“ Der 16-jährige Maximilian empfindet das ähnlich: „Es wirkt alles so surreal. Die Zeit fühlt sich weit weg und doch nah an, da es Menschen aus unserer Stadt waren. Aber dass so etwas in unserer Gesellschaft noch einmal passiert, ist unvorstellbar.“ Die 16-jährige Dariia, die neben Maximilian steht, ist sich da nicht so sicher: „Diese Dinge gehören zur Vergangenheit dazu, und deshalb müssen wir uns immer daran erinnern, was damals mitten in Europa geschehen ist. Mir ist das besonders wichtig, weil ich aus der Ukraine komme.“
Manchmal kommt das Leid eben sehr nahe. „Auch heute herrscht wieder Krieg in Europa, und Putin vergleicht seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Befreiungskrieg gegen Nazi-Deutschland. Was für ein infamer Vergleich“, sagt der Bürgermeister der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen, Thilo Becker. Auch der millionenfache Mord der Nazis ist mit nichts zu vergleichen, sagt der er. „Die Gedenken an den Holocaust wachzuhalten ist eine Aufgabe, die jede Generation annehmen muss. Wir müssen unsere Werte verteidigen, die auf Demokratie, Freiheit und Toleranz basieren. Diese Werte sind Glücksmomente in der Geschichte der Menschheit. Lass uns gemeinsam daran arbeiten, dass sie nicht so vergänglich sind wie ein Wimpernschlag.“
Die Jugendlichen halten die Erinnerung wach. In diesem Jahr nicht nur an die 24 ermordeten Jüdinnen und Juden, sondern auch den Höhr-Grenzhäuser Widerstandskämpfer Hermann Geisen, der 1943 hingerichtet wurde. Die Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Geschichte lesen den Abschiedsbrief Geisens an seinen Sohn Kurt vor und fordern einen „Stolperstein“ vor dessen ehemaligem Haus, der an den Widerstandskämpfer erinnern soll.
In solchen Momenten wird Geschichte lebendig und lebensnah. „Gedenken ist eben viel mehr als erinnern: Es ist ein gemeinsames Einsteigen in eine Geschichte, die auch meine sein könnte“, sagt die Evangelische Pfarrerin und Koordinatorin der Gedenkveranstaltung, Monika Christ. „Je mehr Zeitzeugen sterben, desto weiter weg wirkt das alles. Wir brauchen Formen, die über die Geschichtsstunde hinausgehen. Formen, die uns emotional berühren. Und eine Gemeinschaft, in der wir voneinander wissen und füreinander Verantwortung übernehmen.“ (bon)
Im Detail: Die Shoa-Gedenkfeier
In diesem Jahr ist das Shoa-Gedenken zwei Tage vorverlegt worden, da die Zeugnisausgabe diesmal auf den 27. Januar fällt. Neben der Evangelischen Pfarrerin Monika Christ haben dieses Mal der Bürgermeister der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen, Thilo Becker, der Stadtbürgermeister Michael Thiesen, der Schulleiter der Realschule plus, Udo Voss, der Schulleiter des Gymnasiums, Nino Breitbach sowie Lehrkräfte, Schüler*innen der Schulen und weitere Vertreter*innen der Kommunen teilgenommen. Mit dabei war auch Simon Gerhards, Koordinator der „Partnerschaft für Demokratie im Kannenbäckerland“; das ist eine Initiative, die sich für Demokratie, Vielfalt und gegen Menschenfeindlichkeit im Kannenbäckerland einsetzt.
Die Gedenkfeier wurde musikalisch begleitet von Harald Bast. (Quelle Evangelisches Dekanat WW)