Haus der Großeltern in Montabaur und Grabstein des Ur-Ur-Großvaters in Maxsain: Nachfahre von Holocaust-Flüchtlingen ist überwältigt von der Hilfe bei seinen Recherchen – Stadtarchivar deckt viele Spuren auf
„It was so emotional!“ Diesen Satz sagt Peter Howard Sternberg wieder und wieder. Zwei Jahre lang hat er nach seinen jüdischen Wurzeln geforscht. Jetzt ist er eigens aus Kalifornien in den vorderen Westerwald und ins hessische Reiskirchen gekommen, um die Spuren seiner Familie zu verfolgen. Er lernt Menschen kennen, die ihn begleiten. Er sieht Häuser, in denen seine Vorfahren gelebt haben. Und er findet das Grab seines Ur-Ur-Großvaters Alexander Sternberg Süßkind.
Das Schicksal der Familie Sternberg ist eng verknüpft mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – der Nazizeit mit dem Holocaust und dem systematischen Auslöschen jüdischen Lebens. Peter Sternbergs Mutter Ellen stammte aus dem Schwarzwald. Sie verließ Deutschland 1939 zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder; die Flucht endete in Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Ellen, die 2019 im Alter von 95 Jahren starb, interessierte sich sehr für die Herkunft ihrer Familie und schrieb ein Buch darüber. Ihr Tod war der Auslöser für Sohn Peter, Recherchen über den väterlichen Zweig aufzunehmen – die Sternbergs. Soviel wusste er: Seine Großeltern Simon und Settchen hatten mit den Söhnen Norbert und Kurt im hessischen Reiskirchen gelebt. Sie waren dem Terror der Nazis ebenfalls nur entkommen, weil ihnen die Auswanderung gelang.
Auch Montabaur und Maxsain im Westerwald gehören zur alten Heimat der Sternbergs. Mit Dennis Röhrig, Stadtarchivar in Montabaur, findet Peter gleich zu Beginn seiner Nachforschungen einen ebenso engagierten wie gewissenhaften Mitstreiter. Röhrigs Quellenstudium fördert ungeahnte Details zutage, die sich zusammen mit persönlichen Erzählungen und Erinnerungen zur Geschichte der jüdischen Familie fügen.
Simon Sternberg zieht um 1890 von Maxsain nach Montabaur, 1898 kauft er im „Vorderen Rebenstock“ ein Haus mit Stall und Düngplatz und dazu einen Garten im „Hinteren Rebenstock“. Im selben Jahr heiratet er Settchen Löwenberg aus Reiskirchen. Simons Beruf wird mit Handelsmann angegeben, er betreibt aber auch eine Metzgerei in Montabaur. Ob die Konkurrenz zu groß ist oder ob es Settchen zu ihren Angehörigen zieht ist unbekannt. Jedenfalls siedelt das Ehepaar mit dem 1899 geborenen Sohn Norbert 1910 nach Reiskirchen um, wo im Jahr darauf Peter Sternbergs Vater Kurt zur Welt kommt. Dieser arbeitet später bei seinem älteren Bruder Norbert im Textilunternehmen „Grünebaum und Sternberg“ in Frankfurt.
Es ist Kurt, der die Zeichen der Zeit erkennt: Wer als Jude überleben will, muss heraus aus Nazi-Deutschland. Im Alter von 26 Jahren wandert er nach Südafrika aus. Nur mit großer Mühe gelingt es ihm, auch seine Eltern und seinen Bruder zur Emigration zu überreden. Peter Sternberg: „Die Familien meiner Mutter und meines Vaters haben Deutschland schweren Herzens verlassen, weil sie sich extrem bedroht fühlten durch die wachsende furchtbare Verfolgung der Juden. Zudem durften sie ihren Geschäften nicht mehr nachgehen.“ In Afrika lernen Kurt und Ellen sich kennen, heiraten und bekommen zwei Söhne und eine Tochter. Peter, 1955 geboren, ist das jüngste Kind. Vor fünf Jahren ist er mit seiner Frau nach Los Angeles gezogen, um den gemeinsamen Zwillingssöhnen und ihren Familien nahe zu sein, die dort leben.
Peter hat den Entschluss, auf einen anderen Kontinent zu wechseln, leichten Herzens gefasst - anders als seine Vorfahren. Sie fanden keine Heimat mehr: „Sie fühlten sich verloren. Die deutsch-jüdische Gemeinde in Kapstadt war eine geschlossene Einheit, die von außen mit Misstrauen betrachtet wurde. Und man hatte es auch nicht gern, wenn Deutsch gesprochen wurde.“ Peter selbst lernte lediglich einige Brocken Deutsch von seinem Großvater in Rhodesien. So fremd ihm diese Sprache bleibt, so groß ist das Interesse an seinen Vorfahren. Die Corona-Pandemie verzögert seine Pläne. Aber im Oktober 2021 kommt Peter Sternberg endlich in die Heimat seiner Väter - nach Reiskirchen, Maxsain und Montabaur. Er ist überwältigt von der Gastfreundschaft und der Begeisterung, mit der ihn bislang fremde Menschen unterstützen. Zusammen mit ihnen entdeckt er, wonach er gesucht hat.
Die Häuser sind noch da! In Reiskirchen hat er u.a. das ehemalige Zuhause von Simon und Settchen besichtigt, die Geburtsstätte seines Vaters Kurt. Es gibt sogar ein Foto von Simon. In Montabaur steht Peter am Vorderen Rebstock Nr. 15, wo die Großeltern zuvor wohnten und sein Onkel Norbert zur Welt kam. Der unermüdliche Dennis Röhrig hat eine kleine Zeitungsannonce aus dem Jahr 1910 entdeckt. Simon Sternberg, auf dem Sprung nach Reiskirchen, bietet einen „Stall nebst Heuboden“ zur Miete an. Man vermutet: Das muss der kleine Fachwerkbau hinterm Haus sein.
Gemeinsam geht es weiter nach Maxsain, wo Bürgermeister André Philippi und sein Vorgänger Willi Löcher den Gast aus Amerika erwarten. Sie besuchen den jüdischen Friedhof außerhalb des Orts. 35 Grabsteine sind erhalten. Einer, auf dem kein Name zu erkennen ist, trägt als Relief zwei Hände. Das ist ein Anhaltspunkt. Peter weiß: Es ist das Symbol der Kohanim, des höchsten Priesterstandes im Judentum. Seine Familie gehört dazu. Urgroßvater Nathan Sternberg hatte eine leitende Funktion im Maxsainer Synagogenvorstand. Spontan beginnt André Philippi zu graben: „Er hat mit bloßen Händen die Erde weggeschaufelt. Seine Finger waren schwarz vor Schmutz“, erzählt Peter. Auf dem frei gelegten Stein erscheinen zwei Namen: Sternberg Süsskind. Jetzt kann Dennis Röhrig sein Wissen beisteuern: Im Jahr 1841 mussten die Juden im Herzogtum Nassau zur „Assimilation“ ihre Familiennamen ändern. Die jüdische Familie Süsskind aus Maxsain nannte sich seitdem Sternberg, und eine Zeitlang existierten wohl beide Namen nebeneinander. Dies ereignete sich zu Zeiten von Nathans Vater Alexander. Jetzt erlebt der Nachfahre aus Kalifornien den bewegendsten Moment seiner Reise: „Wir hatten das Grab meines Ur-Ur-Großvaters gefunden!“
Peter Sternberg verlässt Deutschland voller Dankbarkeit: „So viele Menschen haben mir geholfen! Nur dadurch ist es gelungen, die Geschichte meiner Familie über fünf Generationen zurückzuverfolgen.“ Er weiß nun, wo seine Wurzeln liegen und wie seine Vorfahren gelebt haben. Und er kann nachempfinden, wie sehr sie ihre Heimat liebten und wie bitter der Abschied war. Peter brennt nun darauf, die Erkenntnisse dieser außergewöhnlichen Reise mit seinen Söhnen und den fünf Enkeln sowie seinem Bruder und dessen Familie zu teilen: „Das ist ein Vermächtnis. Denn wir alle tragen den Namen Sternberg weiter.“ (Quelle Foto Stadt Montabaur)